Ansätze zur Optimierung der Fahrschulausbildung in Deutschland - Auf dem Weg zu einem neuen Fahrausbildungscurriculum

Artikel aus Newsletter Ausgabe 18, November 2016

1. Ausgangslage

Fahranfänger weisen unmittelbar zu Beginn des selbstständigen Fahrens das höchste Unfallrisiko ihrer gesamten Fahrkarriere auf. Dieses Risiko nimmt mit steigender fahrpraktischer Erfahrung schnell ab. Daher muss die Vermittlung bzw. Aneignung von Fahrkompetenz vor dem Beginn des selbstständigen Fahrens optimiert werden, um die Unfallzahlen von Fahranfängern zu senken. Dies legt insbesondere nahe, nach Anregungen zur weiteren Optimierung der Fahrschulausbildung zu suchen.

Zur Bewältigung der genannten Aufgabe hat die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) im Jahr 2012 das Projekt „Ansätze zur Optimierung der Fahrschulausbildung in Deutschland“ (OFSA) in Auftrag gegeben. In diesem Projekt wurden die Inhalte, Methoden und Durchführungsformen der Fahrschulausbildung einer kritischen Betrachtung unterzogen und wissenschaftlich begründete Ansatzpunkte für ihre Weiterentwicklung erarbeitet. Die diesbezüglichen Forschungs- und Entwicklungsarbeiten wurden vom Institut für angewandte Familien-, Kindheits- und Jugendforschung e.V. an der Universität Potsdam (IFK) in Kooperation mit der Deutschen Fahrlehrer-Akademie e.V. (DFA) durchgeführt. Im vorliegenden Beitrag werden zentrale Ergebnisse des Projekts zusammenfassend beschrieben; der vollständige Projektbericht wurde auf der Internetseite der BASt veröffentlicht und steht dort kostenlos zum Download bereit (s.  http://bast.opus.hbz-nrw.de/frontdoor.php?source_opus=1746).

2. Methodisches Vorgehen und Projektergebnisse

Die Projektarbeiten beinhalteten (1) eine Aufarbeitung der  pädagogisch-psychologischen Grundlagen zu Curricula und eine international vergleichende Analyse von Fahrausbildungscurricula. Darauf aufbauend wurden (2) ein lehrlerntheoretisch begründeter Vorschlag für ein künftiges Fahrausbildungscurriculum für den Theorieunterricht und die fahrpraktische Ausbildung sowie prototypische Ausbildungseinheiten erarbeitet. Schließlich wurden (3) die bisherigen Steuerungsprozesse der deutschen Fahrschulausbildung anhand von Zeitzeugeninterviews analysiert und Empfehlungen für künftige Steuerungsprozesse abgeleitet. Nachfolgend werden die Projektergebnisse in Bezug auf die drei genannten Arbeitsschritte dargelegt.

Zu (1): Die Inhalte, Methoden und Durchführungsformen der Fahrausbildung sind nicht allein mit rechtlichen Vorgaben, sondern – wie bei Bildungsmaßnahmen üblich − auch in fachlich und lehr-lerntheoretisch begründeten Steuerungsinstrumenten zu regeln. Hierzu ist ein Fahrausbildungscurriculum erforderlich. Aus diesem Grund wurde im Rahmen des OFSA-Projekts zunächst untersucht, welche Inhaltselemente Curricula strukturieren und auf welche Weise Curricula erarbeitet, evaluiert und fortgeschrieben werden. Darauf aufbauend wurden 14 Fahrausbildungscurricula aus dem internationalen Raum analysiert und hinsichtlich ihrer Rolle im Prozess des Fahrkompetenzerwerbs bewertet. Neben den deutschen Ausbildungsmaterialien – hierzu gehören v. a. die Fahrschüler-Ausbildungsordnung, der Leitfaden „Theoretischen Unterricht gestalten“ (2006), der „Curriculare Leitfaden – Praktische Ausbildung Pkw“ (2008) und der Leitfaden „Praktische Ausbildung gestalten“ (2005) – wurden beispielsweise das „Finnish B Category Curriculum“ (2013), das irische „Steer Clear Curriculum“ (2008/2009), das niederländische „Driver Training in Steps“ (2001) sowie das in den USA verbreitete „Driver Education Classroom and In-Car Curriculum” (2012) analysiert. Einen Überblick über die analysierten Curricula bietet die Abbildung 1.

 

Abb. 1: Überblick über die analysierten Ausbildungscurricula

 

Die Analyse der Curricula erfolgte anhand verschiedener Kriterien (z.B. lehr-lerntheoretische Fundierung, Reichweite und Modularität, Lehr-Lernziele und Lehr-Lerninhalte, Lehr-Lernmethoden und Lehr-Lernmedien, Lernstandsdiagnostik, Entwicklung und Evaluation). Im Anschluss an die Curriculaanalyse wurden die Anforderungen abgeleitet, die an die Erarbeitung eines Rahmencurriculums für die optimierte Fahrschulausbildung in Deutschland zu stellen sind. Hierzu gehört beispielsweise die Anforderung, dass sich das Curriculum über die gesamte Fahrschulausbildung (d.h. den Theorieunterricht und die fahrpraktische Ausbildung) erstrecken und auch die Schnittstellen zum selbstständigen Theorielernen und zum begleiteten Fahrenlernen einbeziehen sollte. Der Theorieunterricht, das selbstständige Theorielernen und die fahrpraktische Ausbildung sollten dabei nicht unverbunden nebeneinander stehen, sondern in inhaltsbezogenen Modulen miteinander verknüpft werden. Weiterhin sollten die im Curriculum festzulegenden Ausbildungsstandards mit der Fahrerlaubnisprüfung verzahnt werden; die Brückenfunktionen sollten gemeinsame wissenschaftlich begründete Bildungsstandards erfüllen.

Im Hinblick auf die Lehr-Lerninhalte erbrachte der Vergleich der deutschen Ausbildungsmaterialien und der internationalen Ausbildungscurricula, dass die meisten Inhalte, die international vermittelt werden, auch in den deutschen Ausbildungsmaterialien verankert sind. Im Bereich der „Verkehrswahrnehmung und Gefahrenvermeidung“ wurden allerdings in den deutschen Steuerungsinstrumenten Defizite deutlich, die zukünftig behoben werden sollten: Eine verbesserte verkehrspädagogisch-didaktische Aufbereitung der Gefahrenlehre in der Fahrschulausbildung und Fahrerlaubnisprüfung wird seit Jahrzehnten von Verkehrspädagogen (z.B. Munsch, 1973) und Verkehrspsychologen (z.B. Hampel, 1977) gefordert, konnte aber zum damaligen Zeitpunkt v.a. aufgrund unzureichender medialer Visualisierungsmöglichkeiten nicht verwirklicht werden. Heute erlauben es die multimedialen Darstellungsmöglichkeiten, diese bislang noch unzureichend genutzten Verkehrssicherheitspotenziale auszuschöpfen. Hierfür erscheinen insbesondere zusätzliche spezielle Ausbildungseinheiten zur Förderung der Verkehrswahrnehmung und Gefahrenvermeidung sowie ein Verkehrswahrnehmungstest wünschenswert.

 

Abb. 2: Ausschnitte aus der Referenzausbildungseinheit "Verkehrswahrnehmung und Gefahrenvermeidung im Straßenverkehr" der BVF e.V.

 

Zu (2): Es wurde ein lehr-lerntheoretisch begründeter Vorschlag für einen künftigen Ausbildungsverlauf erarbeitet, der die vier Lernbereiche „Basisausbildung“, „Verkehrsrisiko Mensch“, „Training ausgewählter Fahraufgaben und Grundfahraufgaben“ sowie „Sonderfahrten und Prüfungsvorbereitung“ beinhaltet. Diese Lernbereiche unterscheiden sich im Hinblick auf ihre zeitliche Platzierung im Prozess des Fahrkompetenzerwerbs, die funktionale Verzahnung von Lehr-Lernformen, die Lehr-Lerninhalte und die Lehr-Lernmethoden. Eine ausführliche Beschreibung der Lernbereiche findet sich bei Bredow und Sturzbecher (2016).  Darüber hinaus wurden – gemeinsam mit Vertretern der Bundesvereinigung der Fahrlehrerverbände e.V. (BVF), des Deutschen Verkehrssicherheitsrates e.V. (DVR) und des Interessenverbandes Deutscher Fahrlehrer e.V. (IDF) – sogenannte „Referenzausbildungseinheiten“ einer optimierten Fahrschulausbildung entwickelt. Verkehrspädagogisch-didaktisch anspruchsvolle Referenzausbildungseinheiten könnten künftig einerseits der Diskussion und Weiterentwicklung von Qualitätsstandards in der Fachöffentlichkeit dienen. Andererseits könnten sie v.a. Fahrlehreranwärtern und Fahrlehrern mit wenig Berufserfahrung Anregungen und Orientierungen für die Ausgestaltung der eigenen Ausbildungspraxis bieten. Dies setzt voraus, dass die Referenzausbildungseinheiten vor der Veröffentlichung einer wissenschaftlichen Erprobung und Beurteilung sowie – im Falle von festgestelltem Optimierungsbedarf – einer Revision unterzogen werden. Zu diesem Zweck wurden sowohl begründete fachliche und verkehrspädagogisch-didaktische Qualitätskriterien für die Entwicklung beispielhafter Ausbildungseinheiten als auch ein prototypischer Erprobungsablauf mit einer Beschreibung der Beteiligten und der Erprobungsprozesse erarbeitet.

Zu (3): Eines der Teilziele des OFSA-Projekts bestand in der Analyse von Steuerungsprozessen der Fahrschulausbildung. Dazu wurden seitens der DFA zunächst die rechtlichen Vorschriften seit dem Beginn der Fahrschulausbildung rekonstruiert und die wichtigsten Weiterentwicklungen herausgearbeitet. Zu diesen Weiterentwicklungen wurden dann gezielt Zeitzeugeninterviews durchgeführt. Als Interviewpartner für das Hauptinterview konnte Gebhard L. Heiler gewonnen werden. In vertiefenden Interviews wurden Gerhard von Bressensdorf (Bereich Fahrlehrerverbände), Prof. Bruno Heilig (Bereich Erziehungswissenschaften),  Dr. Hanns Ch. Heinrich (Bereich BASt), Dr. Franz-Joachim Jagow (Bereich Rechtsprechung) und Kay Schulte (Bereich Verkehrssicherheitsorganisationen) befragt, um ergänzende Informationen einzuholen und ggf. andere Perspektiven kennenzulernen. Auf diese Weise konnten Steuerungsprozesse aus den vergangenen Jahrzehnten rekonstruiert und Empfehlungen für eine zukünftige Steuerung der deutschen Fahrschulausbildung abgeleitet werden.

3. Fazit und Ausblick

Aufgrund des anhaltend hohen Unfallrisikos von Fahranfängern erscheint eine weitere Optimierung der Fahrschulausbildung unerlässlich. Im OFSA-Projekt wurden daher erfolgversprechende inhaltliche, methodische und organisatorische Ansatzpunkte zur Optimierung der Fahrschulausbildung beschrieben und unter Bezug auf den aktuellen Erkenntnisstand in den einschlägigen wissenschaftlichen Disziplinen begründet. Auf den Projektergebnissen aufbauend, muss nun die konkrete Ausarbeitung eines Rahmencurriculums für die optimierte Fahrschulausbildung erfolgen. Dazu müssen beispielsweise die in Deutschland und den internationalen Curricula gefundenen Lehr-Lerninhalte strukturiert und angepasst werden. Weiterhin sollte ein Vorschlag erarbeitet werden, welche Inhalte aus fachlichen und didaktischen Gründen in welcher Reihenfolge und mit welchen Lehr-Lernformen zu vermitteln sind. An diesen Entwicklungsarbeiten sowie an der anschließenden Curriculumpflege sind sowohl Vertreter der Wissenschaft als auch praxiserfahrene Experten zu beteiligen.

Erste Früchte hat das OFSA-Projekt bereits getragen: Um die Fahrschulausbildung und die Fahrerlaubnisprüfung im Bereich „Verkehrswahrnehmung und Gefahrenvermeidung“ weiterzuentwickeln (s.o.), erproben die BVF, die TÜV|DEKRA arge tp 21, das IFK und das IPV seit November 2015 zwei Ausbildungseinheiten und einen Verkehrswahrnehmungstest. Sieben Fahrschulen aus Bayern, Berlin, Brandenburg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen haben sich im Interesse der Verkehrssicherheit dazu bereit erklärt, am Erprobungsprojekt mitzuwirken und die Kosten für ihren Erprobungsaufwand selbst zu tragen. Zu den Unterstützern des Projekts zählen verschiedene Länderministerien, Fahrlehrerverbände, die Technischen Prüfstellen, der DEGENER Verlag sowie der Fachbereich Verkehr der Region Hannover. Erste Projektergebnisse sollen demnächst an dieser Stelle vorgestellt werden.

Abschließend bleibt festzuhalten: Die BVF e.V. hat im Jahr 1986 das „Curriculum für die Ausbildung in der Fahrschule zur Fahrerlaubnis der Klasse 3“ veröffentlicht. Dabei handelt es sich um ein grundlegendes, erziehungswissenschaftlich begründetes Steuerungsinstrument, das neben inhaltlichen, didaktischen und methodischen Empfehlungen für den Theorieunterricht auch ein Konzept für die Theorie-Praxis-Integration in der Stufenausbildung beinhaltet. Auf dieser Grundlage wurden dann die Curricularen Leitfäden der DFA und der BVF für die fahrpraktische Ausbildung sowie weitere Praxismaterialien erarbeitet. Nach drei Jahrzehnten erscheint es nun geboten, ein weiterentwickeltes und dem derzeitigen pädagogisch-psychologischen Erkenntnisstand entsprechendes Curriculum bereitzustellen, das die verschiedenen Lehr-Lernformen in Theorie und Praxis verbindet und überspannt: Das OFSA-Projekt könnte dafür einen wichtigen Ausgangspunkt bieten.

_____

Literatur

Bredow, B. & Sturzbecher, D. (2016). Ansätze zur Optimierung der Fahrschulausbildung in Deutschland. Berichte der Bundesanstalt für  Straßenwesen, Reihe Mensch und Sicherheit, Heft M 269.  Bremerhaven: Wirtschaftsverlag NW. Online verfügbar unter: http://bast.opus.hbz-nrw.de/frontdoor.php?source_opus=1746

Bundesvereinigung der Fahrlehrerverbände e.V. (1986). Curriculum für die Ausbildung in der Fahrschule zur Fahrerlaubnis der Klasse 3. Remagen: Verkehrs-Verlag.

Hampel, B. (1977). Möglichkeiten zur Standardisierung der praktischen Fahrerlaubnisprüfung. Bericht zum  Forschungsauftrag 7516 der Bundesanstalt für Straßenwesen. Köln: Technischer Überwachungsverein Rheinland e.V.

Munsch, G. (1973). Dynomen-Lehre. Eine psychologisch-pädagogische Studie über die Notwendigkeit und die Möglichkeiten des Trainings der „Vorahnung“ kritischer Verkehrslagen. Technischer Überwachungsverein Bayern e.V.

 

Zurück